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Freitag,
der 1. Dezember 1989

Die Volkskammer beschließt mit überwältigender Mehrheit die Streichung der bisher in der Verfassung verankerten Führungsrolle der SED. Damit entfällt der Halbsatz von Artikel eins, daß die DDR den Sozialismus "unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei" gestalte. Die CDU unterliegt mit ihrem Antrag, wonach aus dem ersten Artikel auch die Aussage gestrichen werden sollte, daß die DDR ein sozialistisches Land ist.

Der Vorsitzende des parlamentarischen Ausschusses zur Untersuchung von Korruption und Amtsmißbrauch, Heinrich Toeplitz (CDU), spricht zum Vorgehen der Polizei und der Sicherheitskräfte und fragt, wer sie zum Mißhandeln und Quälen von Festgenommenen ausgebildet habe. Er meint, es könne kein Zufall sein, daß Polizeidienststellen an weit auseinanderliegenden Orten wie Dresden, Bautzen und Berlin die Festgenommenen "nach einer einheitlichen Methode" schikaniert hätten. Solche Methoden dürfe es nach dem Ende der Nazi-Herrschaft nicht mehr geben.

Der Leiter des neu geschaffenen Amtes für nationale Sicherheit, General Wolfgang Schwanitz, teilt den sichtlich betroffenen Abgeordneten mit, daß er zu den Vorgängen wenig sagen könne, da er von seinem Amtsvorgänger, Staatssicherheitsminister Erich Mielke, nur zwei leere Panzerschränke übernommen habe.

Der 1976 aus der DDR ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann darf das erste Mal wieder in der DDR auftreten. Er singt in Leipzig vor 6000 Zuhörern.

"Die Bundesrepublik ist auch nicht die Lösung des Menschheitsproblems, vor dem wir alle stehen", sagt er mit Blick auf die jüngst in Leipzig laut gewordenen Rufe nach Wiedervereinigung. "Ich bin nicht froh über diese ‘Deutschland, Deutschland über alles'-Stimmung. Wir wären schön dumm – ihr wäret schön dumm – wenn ihr rückwärts laufen würdet ins alte Reich à la Helmut Kohl. Besten Dank!" rief er dem Publikum zu, das den Worten applaudierte.
In Leipzig wird an diesem Tag erstmals für die DDR Smogalarm ausgerufen. In der von chemischer Industrie umgebenen Stadt herrscht so dicke Luft, daß gleich Alarm der Stufe zwei ausgelöst und das für den Abend angesetzte Fußballspiel zwischen dem 1. Lok Leipzig und Dynamo Dresden abgesagt werden muß.

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