www.das-erste.de www.chronik-der-wende.de www.chronik-der-wende.de english version

Montag,
der 4. Dezember 1989

Über den Rundfunk wird ein Aufruf an alle Mitarbeiter des Bereiches "Kommerzielle Koordinierung" verlesen: "Ruft Belegschaftsversammlungen zusammen, die Kontrollgruppen zur Verhinderung weiterer Machenschaften einsetzen. Informiert die Deutsche Volkspolizei und die Öffentlichkeit. Verständigt Euch mit anderen Betrieben und mit Bürgerbewegungen eures Vertrauens. Beschließt, wo nötig, gemeinsame Kontrollmaßnahmen und sorgt für deren Öffentlichkeit."

Erste Sicherheitsmaßnahmen hat auch die Nationale Volksarmee ergriffen. Sie sperrt den Luftraum in der Umgebung des Kavelstorfer Waffenlagers für alle Tiefflugübungen. Die Bevölkerung in der Umgebung ist durch die Entdeckung der riesigen Munitionsbestände in einfachen Leichtbauhallen höchst beunruhigt und verlangt schnellsten Abtransport in gesicherte Depots.

Im Zentralkomitee der SED wird offensichtlich versucht, belastende Unterlagen zu vernichten oder abtransportieren zu lassen. Der Leiter der Abteilung Finanzen wird verhaftet. Mitarbeiter des Flughafens Berlin-Schönefeld machen darauf aufmerksam, daß zwei Sondermaschinen mit Akten beladen werden, die nach Rumänien fliegen sollen.

Die Christlich-Demokratische-Partei (CDU) und die Liberaldemokratische Partei (LDPD) erklären ihren Austritt aus dem sogenannten Demokratischen Block. Ein weiteres Zusammenwirken mit anderen politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes werde eher am Runden Tisch für sinnvoll angesehen. Das Präsidium der CDU verlangt zudem den Rücktritt von Egon Krenz als Vorsitzender des Staatsrates und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates.

Die Enthüllungen ziehen noch andere Konsequenzen nach sich: Es häufen sich Fälle von Selbstjustiz. Prominente aus Politik, Kultur und Wirtschaft verabschieden angesichts dieser Situation einen Appell für eine Sicherheitspartnerschaft zwischen Bürgerkomitees und den staatlichen Organen: "Im ganzen Land gibt es Bekundungen des Zorns und der Empörung über Machtmißbrauch, Korruption, Verbrechen und Versuche der Verdunkelung krimineller Vorgänge. Das ist auch unser Zorn und unsere Betroffenheit. Es gibt Anzeichen, daß aus diesem berechtigten Zorn Handlungen erwachsen, die in die Gefährdung der Sicherheit der Bürger und des Lebens münden könnten." Dies dürfe nicht zugelassen werden.
Erstmals in der DDR gehen an diesem Tag auch Volkspolizisten und Angehörige der Sicherheitsorgane auf die Straße, um gegen Amtsmißbrauch, Korruption und gegen Aktenvernichtung zu protestieren. Sie erklären, daß sie alles für die Aufklärung dieser Verbrechen tun wollen.
Der Leiter des Amtes für Nationale Sicherheit, General Wolfgang Schwanitz, teilt mit, daß bereits 10.000 ehemalige Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit entlassen worden seien.
Am Abend demonstrieren, wie an jedem Montag, wieder über eine Viertelmillion Menschen in zahlreichen Städten der DDR. In Leipzig, wo 150.000 Menschen auf die Straße gehen, sind zahlreiche schwarzrotgoldene Fahnen zu sehen. Auf den selbstgefertigten Plakaten ist Erich Honecker in Sträflingsuniform zu sehen und auf Transparenten ist zu lesen: "SED – leck uns am Arsch!", "Korrupter SED-Adel an den Pranger!" und "Stasi in die Produktion". Da sich der Zorn vieler Demonstranten gegen das in unmittelbarer Nähe gelegene Gebäude der Bezirkszentrale der Staatssicherheit richtet, erhalten Vertreter der Bürgerbewegungen und Rechtsanwalt Wolfgang Schnur vom Demokratischen Aufbruch Zugang zur Stasi-Hochburg, um einem Sturm zuvorzukommen. Ein spontan gebildetes Bürgerkomitee veranlaßt mit Hilfe der Polizei die Versiegelung zahlreicher Räume, um weitere Aktenvernichtungen zu verhindern.

zurück
weiter