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Montag,
der 15. Januar 1990

Laut Bundesinnenministerium meldeten sich allein in den ersten beiden Wochen des neuen Jahres 20.818 DDR-Bürger bei den bundesdeutschen Behörden, die auf Dauer im Westen bleiben wollen. Zugleich teilt Bayerns Sozialminister Glück mit, daß Übersiedler künftig keine Entschädigung mehr für zurückgelassenes Vermögen oder Hausrat erhalten werden. Ausreisende könnten jetzt nach einer entsprechenden DDR-Anordnung über ihr zurückgelassenes Vermögen frei verfügen. Einen Zwang zum Zurücklassen von Gütern gebe es nicht mehr.

Während der siebenten Zusammenkunft des Runden Tisches berichtet die Regierung über den Stand der Auflösung des Staatssicherheitsdienstes. Danach ist die umfangreiche Post- und Telefonüberwachung inzwischen eingestellt worden. Von den zuletzt 85.000 hauptamtlichen Mitarbeitern seien 1052 in der Telefon- und über 2100 in der Postüberwachung tätig gewesen. Ferner hätten 5000 Personen in der Überwachung und Ermittlung gearbeitet. Im vergangenen Jahr hätten für die Stasi 3,6 Milliarden Mark (1,3 Prozent des Staatshaushalts) zur Verfügung gestanden. 30.000 ehemalige Stasi-Mitarbeiter sollen seit Auflösung des Amtes entlassen worden sein. Bei weiteren 22.500 Personen werde die Eingliederung in die Volkswirtschaft, das Gesundheitswesen, in Armee und Volkspolizei vorbereitet.

20.000 von den verbleibenden 32.500 Personen würden in allernächster Zeit entlassen. 12.500 Mitarbeiter sollen bis zur endgültigen Übergabe der Stasi-Objekte an den Staat weiterbeschäftigt werden.
Dieser Darstellung widersprechen die Bürgerkomitees, die die Auflösung des Staatssicherheitsdienstes überwachen. Nach ihren Erkenntnissen sei zum Beispiel die Stasi-Zentrale in Ostberlin noch voll funktionsfähig.

Da die Zentrale über eigene Strukturen in der ganzen DDR verfüge, sei auch die Reorganisation des ansonsten unter weitgehender Kontrolle stehenden Dienstes möglich. Aus diesem Grunde dringen die Bürgerkomitees auf eine Kontrolle des Objektes durch Volkspolizei und Bürgergruppen und eine Versiegelung der Räume durch die Staatsanwaltschaft, so wie es auch in den Bezirksverwaltungen geschehen sei.
Gegen 17 Uhr versammeln sich – dem Aufruf des Neuen Forum folgend – mehrere tausend Menschen vor dem ehemaligen Ministerium für Staatssicherheit in der Ruschestraße in Berlin-Lichtenberg, um gegen die fortgesetzte Tätigkeit des Geheimdienstes zu protestieren. Ein Eingang wird symbolisch zugemauert, obwohl inzwischen bereits Vertreter der Bürgerkomitees drinnen mit den Stasi-Offizieren eine friedliche Übergabe verhandeln. Es kommt zu lautstarken Protesten unter Trommeln gegen die Tore, die dann plötzlich von innen geöffnet werden. Rund 2000 Demonstranten dringen daraufhin in die Zentrale ein, wo sie in den Versorgungstrakt gelenkt werden, der dann teilweise verwüstet wird. Aus den eingeschlagenen Fensterscheiben fliegen Akten und Honecker-Bilder, Feuerlöscher werden entleert.
In einem dramatischen Appell ruft die Regierung am Abend die Bevölkerung zur Besonnenheit "in dieser schweren Stunde" auf. Die junge Demokratie sei in "höchster Gefahr", heißt es in einer Erklärung, für die das DDR-Fernsehen sein Programm unterbricht. Kurz vor sieben Uhr mahnt Ministerpräsident Modrow, der eigens vom Runden Tisch herbeigeeilt ist, die aufgebrachten Demonstranten über Lautsprecher zur Besonnenheit. Schließlich übernehmen Mitglieder des Neuen Forum die Initiative. Sie blockieren die Eingänge, halten Schilder mit der Aufschrift "Keine Gewalt" in die Höhe. Nach gut einer Stunde verlassen die Eingedrungenen langsam wieder das Gebäude.

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