www.das-erste.de www.chronik-der-wende.de www.chronik-der-wende.de english version

Leipzig

Dem oberflächlichen Betrachter stellte sich Leipzig erst im Herbst 1989 als Stadt der Rebellion und des Widerstandsgeistes dar. Eigentlich war die Stadt dies jedoch bereits seit Beginn der DDR. Verschiedene Ereignisse zeigen zwar keine ununterbrochene Kontinuität politischer Gegnerschaft, belegen aber einen nie ganz versiegenden Widerspruchsgeist.
Die Leipziger Universität spielt in dieser Geschichte des sächsischen Widerspruchsgeistes eine wichtige Rolle. Ungezählte Studenten wurden hier nach dem Krieg wegen der unterschiedlichsten Vorwürfe von sowjetischen Behörden verhaftet und zu langen Gefängnisstrafen oder gar zum Tod verurteilt.
Noch nach der Gründung der DDR wurde eine Gruppe von Studenten deswegen verhaftet, weil sie gegen die Wahlen nach dem Einheitslistenprinzip protestiert hatte. Wegen "antidemokratischer und konter-revolutionärer“ Tätigkeit wurden sie zu Zwangsarbeit in Workuta verurteilt. Ihr Anführer, Herbert Belter, wurde 1951 in Moskau hingerichtet.
Da Leipzig bis 1933 eine Hochburg der SPD gewesen war, gab es hier nach dem Nationalsozialismus und auch nach der Zwangsvereinigung mit der KPD zur SED viele Sozialdemokraten, die an ihren Idealen festhielten. Eine große Zahl von ihnen wurde unter dem Vorwurf "Schumacher-Agenten“ zu sein, verhaftet, aus öffentlichen Ämtern entfernt oder in den Westen getrieben.
Im Bezirk Leipzig gab es auch heftige und lang andauernde Proteste gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Enteignung von Klein- und Mittelbetrieben. Protesthandlungen waren u. a. auch Brandstiftungen und Selbstmorde.
Im Juni 1953 war Leipzig ein Zentrum der Erhebung. An den Streiks beteiligten sich bis zu 20.000 Arbeiter. Ein Teil der Streikenden zog in die Innenstadt. Die Demonstranten versuchten in die Haftanstalt der Staatssicherheit einzudringen und besetzten die Bezirksleitung der FDJ. Nach der Verhängung des Ausnahmezustandes am Nachmittag wurden im Bezirk Leipzig 11 Menschen erschossen und 200 verletzt. Der Ausnahmezustand wurde bis in den Juli aufrechterhalten.
Auch der letzte gesamtdeutsche Kirchentag fand 1954 in Leipzig statt. 60.000 Menschen beteiligten sich an der Schlussveranstaltung. Eben 1954 führte die SED dann die "Jugendweihe“ ein um die Konfirmation zu unterlaufen und die Jugendlichen von Kirche und Elternhaus zu trennen. 1957 kam es zu einem Schauprozess gegen den Studentenpfarrer Georg-Siegfried Schmutzler. Wegen angeblicher "Boykotthetze“ und "illegaler Gruppenbildung“ wurde er zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt.
Der Philosoph Ernst Bloch wurde im selben Jahr unter merkwürdigen Umständen emeritiert und entging nur knapp seiner Verhaftung. Ab 1961 blieb er im Westen.
Auch kritische SED-Mitglieder wurden abgestraft. 1958 wurde z. B. der Schriftsteller und Journalist Erich Loest wegen angeblich konterrevolutionärer, staatsfeindlicher Gruppenbildung in Leipzig und Halle angeklagt und zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt.
Hans Mayer, Germanistikprofessor an der Leipziger Universität, der in seinen Seminaren offene Debatten ermöglichte, verließ die DDR 1960.
1965 zeigte sich im "Leipziger Beataufstand“, dass sich neben der FDJ eine unabhängige Jugendszene entwickelt hatte. Der Entzug von Spielgenehmigungen von Beat-Gruppen und die Anweisung der SED Gruppenmitglieder in Arbeitslager einzuweisen, führte am 31. Oktober 1965 zu einer Demonstration von mehreren hundert Jugendlichen in der Leipziger Innenstadt. 267 Personen wurden verhaftet, viele zu Haft oder Zwangsarbeit verurteilt.
Auch gegen die Sprengung der Leipziger Universitätskirche am 31. Mai 1968 entwickelten sich bereits im Vorfeld heftige Proteste. Unzählige Eingaben, gab es bereits im Vorfeld. Unmittelbar vor der Sprengung versammelten sich Hunderte schweigend auf dem Platz vor der Kirche. Eine Studentengruppe nutzte einen internationalen Bachwettbewerb um - mit einer automatischen Vorrichtung - ein Protestplakat zu entrollen. Einige der Initiatoren wurden verhaftet und verurteilt, anderen gelang die Flucht in den Westen.
Sowohl gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings, als auch die Ausbürgerung Wolf Biermanns, der Hausarrest gegen Robert Havemann und die Verhaftung des Regimekritikers Rudolf Bahro entwickelten sich unterschiedlichste Protestformen. Nicht wenige davon waren von der Philosophie des 1961 im Westen gebliebenen Philosophen Ernst Bloch inspiriert.
Auch die Künstlerszene in Leipzig setzte in den 70er Jahren ihre eigenen Akzente. Ein veritables eigenes Milieu unabhängiger Zirkel, literarischer Freundeskreise u. a. bildete sich heraus. 1984 fand mit dem ersten Leipziger Herbstsalon sogar eine illegal finanzierte und organisierte Kunstausstellung in der Innenstadt statt. Auch die Mitglieder dieser Szenen bezahlten ihr Engagement häufig mit Berufsverbot und anderen Schikanen. Die Punkszene wurde in Leipzig nicht geduldet. 1982 wurde ein von Punks besetztes Abrisshaus extrem gewalttätig von der Polizei geräumt.
Auch in Leipzig stand das Engagement für Abrüstung und Frieden im Mittelpunkt der Gruppenaktivitäten der späten 70er und 80er Jahre. Deutlicher als anderswo organisierten sich in Leipzig auch "Ausreiser“. Bis in die Mitte der 80er Jahre gab es Verhaftungen und Verurteilungen. Danach gingen die öffentlichen Aktivitäten dieser Gruppen zurück. Für die Gruppen in Leipzig hatten die Friedensgebete in der Nikolaikirche eine wichtige koordinierende Funktion.
Seit 1988 versuchten sich die Gruppen vom Dach der Kirche zu lösen und über ein eigenes "Kommunikationszentrum“ die Koordination in die eigenen Hände zu nehmen.
Eine Vielzahl von Aktivitäten fand im Jahr unmittelbar vor dem Umbruch 1989 statt. Eine "Initiative zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft“ rief mit 5000 Flugblättern anläßlich des Todestages von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu einer Demonstration für Pressefreiheit und Demokratie auf. Trotz der Verhaftung der Initiatoren, sie mussten nach internationalen Protesten ohne Strafen wieder entlassen werden, fanden sich 500 Menschen zum angekündigten Demonstrationstermin auf dem Markt in Leipzig zusammen.
Seit März 1989 wurden außerdem die Friedensgebete in der Nikolaikirche regelmäßig zu Ausgangspunkten von Demonstrationen von Menschen, die auf ihre nicht genehmigten Ausreisewünsche, die damit einhergehenden Entlassungen vom Arbeitsplatz etc. aufmerksam machten.
Wie anderswo in der DDR auch bildete dann die Beobachtung der Kommunalwahlen durch Bürgerrechtler und der Nachweis ihrer Fälschung den entscheidenden Anstoß zu einem Aktionszyklus, der dann im demokratischen Umbruch 1989 mündete. Ab dem September 1989 entwickelten sich die Montagsdemonstrationen auf dem Leipziger Ring.

zurück
weiter